The American Dream – wenn man die Geschichte von Norman Granz, seinen »Jazz At The Philharmonic«-Konzerten und dem Verve-Label heute betrachtet, drängt sich der Gedanke vom verwirklichten amerikanischen Traum und der Nutzung der sprichwörtlichen unbegrenzten Möglichkeiten dieses Landes auf. Oder, um es in Cole Porters geflügelte Worte zu kleiden: »Anything goes!«
Im Jahr 1944 schlug die große Stunde des Norman Granz. »Wenn Musiker in einer Bar vor 200 Zuhörern spielen konnten,« sinnierte er, »warum dann nicht in einer Konzerthalle vor 2000 Leuten?« Im Februar 1944 startete er zunächst eine Konzertreihe im Music Town, einer Halle im südlichen Los Angeles. Diese frühen Experimente führten dann zu dem mit großem Werbeaufwand angekündigten Konzert im Philharmonic Auditorium.
Der damals 25-jährige Granz hatte die ebenso glänzende wie gewagte Idee, ein auf dem Prinzip der Jamsessions basierendes Jazzkonzert im Philharmonic Auditorium von Los Angeles zu veranstalten und aufzunehmen. Unter dem Titel »Jazz At The Philharmonic« (JATP) organisierte er ein Benefizkonzert, dessen Erlös dem Verteidigungsfonds jugendlicher Mexikaner zugutekommen sollte, die bei den sogenannten »Zoot Suit«-Aufständen in Los Angeles festgenommen worden waren. Das Konzert, von Granz mit dem vagen Hintergedanken einer späteren Schallplattenveröffentlichung produziert, wurde vom Armed Forces Radio Service (AFRS) aufgezeichnet.
Ein paar Tage nach der ersten JATP-Veranstaltung hörte sich Norman Granz die Konzertmitschnitte des Armed Forces Radio Service an. Er war überrascht von der lebendigen Wiedergabe des Improvisationselans der Musiker und deren lebhafter Interaktion mit dem Publikum. Dies waren nicht die üblichen perfekten Aufführungen, die in der sterilen Atmosphäre eines Studios entstanden waren. Es waren vielmehr Dokumente eines wirklichen Ereignisses.
Intuitiv erfasste Granz damals die erfolgsträchtige Symbiose von Schallplattenproduktionen und Konzertveranstaltungen. Überzeugt davon, dass es für die aufregenden AFRS-Aufnahmen ein interessiertes Publikum geben müsste, begann er 1946 damit, Konzertmitschnitte auf einem kleinen Plattenlabel namens Disc zu veröffentlichen, das dem New Yorker Aufnahmepionier Moses Asch gehörte.
Das Solofeature des Saxofonosten Illinois Jacquet, »Blues, Part 2« (wegen der Überlänge musste der Titel »Blues« auf drei 78er-Plattenseiten gepresst werden) aus der »Jazz At The Philharmonic«-Premiere, entwickelte sich sogar zu einem regelrechten Hit des Jahres. Aber auch die anderen (brillanten und zudem höchst witzigen) Aufnahmen des Debütkonzertes mit u. a. Pianist Nat »King« Cole, Gitarrist Les Paul und Posaunist J. J. Johnson stießen bei den Jazzfans auf große Resonanz. Es handelte sich dabei um die ersten Livemitschnitte der Musikgeschichte, die speziell für eine kommerzielle Veröffentlichung gemacht worden waren. Und sie waren eine Sensation, da sie den Plattenkäufern erstmals ermöglichten, lange Soli ihrer Stars zu Hause zu hören, begleitet von den anfeuernden Zurufen eines begeisterten Publikums.
Wenngleich Granz die baldige Entwicklung der Langspielplatte nicht kommen sah, so war er mit seinem Konzept doch schon bestens für ihr Erscheinen präpariert. Als es dann einige Jahre später so weit war, und die LP ihren Siegeszug antrat, hatte sich das Kürzel JATP schon fest im Vokabular der amerikanischen Plattenkonsumenten etabliert.
JATP entwickelte sich immer mehr zu einem überaus lukrativen Unternehmen und wurde dadurch zu einem Köder für die größten Stars der Jazzszene. Ein Mitglied des JATP-Zirkels zu sein, garantierte viele Jobs, gute Bezahlung und nicht zuletzt auch eine faire Behandlung ohne rassistische Ressentiments. Eine Erfahrung, die bis dahin den wenigsten der meist schwarzen Jazzmusiker vergönnt gewesen war.
»Norman Granz versuchte stets, die Topsolisten für eine gemeinsame ›Jazz At The Philharmonic‹-Tour zusammenzubringen. Er rief einfach diejenigen an, die er für die Besten ihres jeweiligen Instruments hielt, und bot ihnen eine Menge Geld. So hat er’s gemacht«, resümierte Dizzy Gillespie seine Erfahrungen mit dem Impresario. »Norman Granz behandelte Jazzmusiker erstklassig. Man reiste erster Klasse, man kam in erstklassigen Hotels unter, und er lehnte jegliche Rassentrennung bei Veranstaltungen ab.«
Von 1946 bis 1949 organisierte Granz, der sein Jazzimperium kontinuierlich erweiterte, zwei nationale Tourneen pro Jahr. 1948 unterschrieb er zudem für den Vertrieb der Platten seines 1947 neu gegründeten Clef-Labels einen Fünfjahresvertrag mit Mercury Records. Nachdem dieser ausgelaufen war, nahm Granz die Fäden weitgehend selbst in die Hand. Da immer mehr Künstler den Weg zu Granz fanden, schuf dieser noch einige Sublabels, um den Ansprüchen spezieller Märkte besser gerecht zu werden. Während die JATP-Konzerte nach wie vor auf Clef erschienen, fanden traditionelle Jazzmusiker eine Heimat auf Down Home und Modernisten auf Norgran.
Bei einem Konzert in der New Yorker Carnegie Hall, das sowohl Publikum als auch Kritik hinriss, stellte Granz der breiten Öffentlichkeit 1949 einen jungen Pianisten aus Toronto vor: Oscar Peterson. Über die nächsten vierzig Jahre hinweg sollte dieser bei vielen musikalischen Projekten von Granz eine wesentliche Rolle spielen.
Granz erweiterte den Kreis der Musiker ganz nach seinem Geschmack und ohne große Beachtung ihres etwaigen kommerziellen Potenzials. Er selbst favorisierte die etablierten Künstler des Swing und frühen Bebop wie Roy Eldridge, Ben Webster, Lester Young, Benny Carter, Lionel Hampton, Billie Holiday, Dizzy Gillespie, Charlie Parker, Gene Krupa oder Buddy Rich. Dennoch initiierte er auch viele Projekte, die aus der Reihe tanzten: Etwa indem er Fred Astaire 1952 mit dem Trompeter Charlie Shavers und Tenorsaxofonist Flip Phillips zusammenbrachte. Einige dieser Produktionen verkauften sich, andere wiederum nicht. »Während der ersten zehn Jahre«, berichtete Granz, »haben die Konzerte die ganze Plattenfirma subventioniert.«
Ella Fitzgerald war seit 1949 eine regelmäßige Größe bei Granz’ Konzerttourneen. Zunächst konnte er jedoch keine Platten mit ihr produzieren und musste die Aufnahmen ihrer Auftritte im Rahmen der JATP-Serie in seinem Archiv zurückhalten, da Ella Fitzgerald langfristig an das Konkurrenzlabel Decca gebunden war. Dies änderte sich erst Anfang 1956, als Granz Ella durch einen cleveren Tauschhandel vorzeitig aus ihrem noch laufenden Vertrag herausholen konnte. Da Decca den umsatzträchtigen Filmsoundtrack zur »Benny Goodman Story« veröffentlichen wollte, bei dessen Einspielung aber auch Künstler wie Stan Getz, Gene Krupa und Teddy Wilson mitgewirkt hatten, die exklusiv bei Granz unter Vertrag standen, erhielt dieser im Gegenzug für die Freigabe seiner Musiker die lang ersehnten Aufnahmerechte für Ella Fitzgerald.
Und mit der Verpflichtung Ella Fitzgeralds ging die Gründung eines neuen Labels einher: unter einem einheitlichen Signet fasste Granz nun Clef, Norgran und Down Home zu Verve Records zusammen. Die erste wirkliche Produktion für Verve war zugleich ein Bestseller und veritabler Klassiker der zeitgenössischen amerikanischen Musik:
»Ella Fitzgerald Sings The Cole Porter Song Book«. Sieben weitere Songbook-Einspielungen von Ella Fitzgerald sollten folgen. Zwei davon – das Duke-Ellington-Songbook und das Irving-Berlin-Songbook – brachten der »First Lady Of Jazz« 1958 als erster weiblicher Jazz- und Popvokalistin Grammy-Ehren ein. Bis 1962 sollte Granz noch vier weitere, mit insgesamt sechs Grammys ausgezeichnete Alben der Sängerin produzieren.
Da Verve Records seine musikalische Angebotspalette immer weiter auffächerte, musste Granz zunehmend Aufgaben an andere Produzenten delegieren. Während er neue Sparten wie Cabaretmusik und Rock’n’Roll bevorzugt jüngeren Produzenten überließ, kümmerte sich Granz weiterhin persönlich um die Jazzaufnahmen des Labels. Auch auf dem Gebiet der Comedy- und Lyrikplatten leistete Granz mit Verve wichtige Pionierarbeit.
Im Dezember 1960 verkaufte Granz, der seine letzten amerikanischen JATP-Konzerte (mit Ausnahme einer zehn Jahre später stattfindenden Reunion-Tour) 1957 organisiert hatte, Verve an MGM. Granz selbst hatte sich zuvor schon in der Schweiz niedergelassen und zog sich nun beinahe völlig aus dem Plattengeschäft zurück. Nur für neue Plattenproduktionen mit Ella Fitzgerald reiste er noch regelmäßig in die USA. In Europa blieb er als Konzertimpresario jedoch bis in die sechziger Jahre hinein mit seinem »Jazz At The Philharmonic«-Konzept aktiv.
Als neuer ideenreicher Produzent des Labels konnte sich Creed Taylor profilieren, der von 1961 bis 1967 für die meisten Jazzplatten von Verve verantwortlich zeichnete. Unter seiner Ägide entstanden viele auch kommerziell sehr erfolgreiche Aufnahmen mit neuen Verve-Künstlern wie Jimmy Smith, Wes Montgomery, Bill Evans, Kenny Burrell, Cal Tjader und Astrud Gilberto. Aber auch Stan Getz, der schon länger bei Verve unter Vertrag war, machte in dieser Zeit einige seiner besten Einspielungen. Für sein mit dem brasilianischen Sänger und Gitarristen João Gilberto aufgenommenes Album
»Getz/Gilberto«, auf dem sich der Hit »The Girl From Ipanema« befindet, erntete der Tenorsaxofonist 1964 gleich vier Grammys.
Nach der Creed-Taylor-Ära erweiterte sich das Spektrum von Verve immer mehr, um der zunehmenden Nachfrage nach Folk-, Blues- und Rockmusik Rechnung zu tragen. So nahm etwa Frank Zappa die ersten Platten mit seinen Mothers Of Invention für Verve auf. Auch Velvet Underground, Ricky Nelson, Richie Havens, Janis Ian, Tim Hardin, Laura Nyro und die Righteous Brothers waren seinerzeit bei Verve unter Vertrag.
1972 erwarb die PolyGram das geschichtsträchtige Label von MGM. Während die Jazzabteilungen der PolyGram in Europa und Japan schon in den 1970er und 1980er Jahren eifrig wichtige Alben aus dem Backkatalog wiederveröffentlicht hatten, forcierte die amerikanische PolyGram ihre Veröffentlichungspolitik erst ab 1981. Mit dem Aufkommen der Compact Disc ging schließlich auch die Wiederbelebung des Verve-Labels einher. In erstaunlichem Tempo wurden nun endlich die Tonarchive durchforstet und wichtige Aufnahmen wieder dem Jazzpublikum zugänglich gemacht.
Mit exzellent editierten und liebevoll gestalteten Sets von wahrhaft historischem Wert (den musikalischen wird wohl ohnehin niemand bestreiten) gelangten voluminöse CD-Boxen mit Werken von Charlie Parker, Billie Holiday, Ella Fitzgerald, Clifford Brown, Roland Kirk, Benny Goodman, Bill Evans, Bud Powell, Oscar Peterson und anderen auf den Markt.
Seit 1998 gehört die Verve Music Group nun zu Universal Music und ist dort mit den Katalogen von Impulse!, GRP, EmArcy, Decca, MPS und etlichen anderen Labels vereint. Verve steht als Label heute gleichermaßen für Traditionspflege und Innovationslust.